Vor einigen Wochen hatte ich ein sehr intensives Gespräch mit dem (äußerst erfolgreichen) CEO eines (äußerst erfolgreichen) Unternehmens. Das Unternehmen wächst seit Jahren (wieder) kontinuierlich, die Wachstumsraten ließen die kühnsten Erwartungen übertreffen, die Internationalisierung des Unternehmens schritt und schreitet kontinuierlich voran, Produkte des Unternehmens sind den meisten Ländern der Welt erhältlich, das Unternehmen verfügt über ein leistungsfähiges Management, die Strategie ist belastbar, eigentlich ist alles bestens.
Alles bestens also? Nein, nicht alles, denn der CEO spürt in seinem Unternehmen eine gewisse Behäbigkeit, eine gewisse Selbstzufriedenheit. Er spürt, dass im Unternehmen vielerorts die Annahme besteht, es ginge einfach immer so weiter. Dieser CEO lässt sich von den IST-Zahlen nicht trügen. Er hat ein Gespür dafür, dass, um das Wachstum fortzusetzen, mehr erforderlich ist, als ein schlichtes „Weiter so!“. Schließlich ist man nicht in der komfortablen Situation, sich in einem Verteilmarkt zu befinden, sondern das Unternehmen befindet sich in einem hochkompetitiven Umfeld mit Wettbewerbern, die sich mitnichten damit abfinden, dass unser hier besprochenes Unternehmen ihnen immer mehr Markt abnehmen will. Der CEO zweifelt an dem Willen, sich immer weiter zu strecken und er vermisst einen „Sense of Urgency“, also das Gefühl der Dringlichkeit.
Nun könnte man sagen, dass ein CEO immer ein solches Gefühl hat, ja haben muss, weil es ja „nie genug“ ist. Diese Erklärung wäre aber zu billig. Wir stellen in unserer Beratungspraxis immer wieder fest, dass der Stillstand, den viele Unternehmen beklagen, seine Ursachen nicht primär in der jüngeren Vergangenheit findet, sondern dass die Ursachen für jene Stillstände meist in der Zeit des vermeintlich anhaltenden Erfolgs zu finden sind. In den Zeiten, in denen Unternehmen stark wachsen, liegen also die Gründe dafür, dass sich später dieses Wachstum abschwächt und nicht selten sogar zum Stillstand kommt. Bedauerlicherweise ist die Ursache in vielen Fällen durch eine Unternehmensführung verstärkt, die eben nicht über das Gespür meines Gesprächspartners verfügt, verbunden mit dem unbedingten Willen, den mangelnden „Sense of Urgency“ nicht zu tolerieren.
Erklärbar ist das Phänomen natürlich: Der Mensch ist auf das Optimieren seiner Selbst aus. Das Prinzip von Lust (Erfolg genießen) und Unlust (die Mühe auf sich nehmen, den Erfolg weiter auszubauen) ist real. Wenn sich eine kritische Masse bildet, ist man sich auch schnell einig: Das wird schon. Da haben es diejenigen, die darauf hinweisen, dass es weder eine Erfolgsgarantie gibt, noch dass Erfolg eine statische Größe ist, schwer. Es wird einfach angenommen, dass, wenn man so weitermacht wie bisher, der Erfolg auch so sein wird, wie bisher. Das ist eine gefährliche, falsche, lineare Annahme. Selbst um aktuellen Erfolg zu halten, muss Wachstum eintreten. Das wird von vielen Menschen gern vergessen. Wenn dann noch die Annahme hinzukommt, dass man Erfolg einfach linear fortschreiben könne, ist die Stagnation nicht mehr weit entfernt.
Meiner Schätzung zufolge sind 60 bis 70 Prozent unserer Projekte in den letzten 25 Jahren Projekte zum Aufwecken von Unternehmen und Organisationen, stets getrieben durch einen aktiven CEO, gewesen, mit dem Erfolg, diese Unternehmen wieder zum Wachsen zu bringen. Ich glaube auch nicht, dass sich diese Relation deutlich ändern wird. Unsere Auftraggeber sind eben aktive Geschäftsführer, Vorstände, Unternehmer, die sich mit einem Stillstand nicht abfinden, auch nicht mit einem drohenden Stillstand.
Wie hoch ist bei Ihnen der „Sense of Urgency“?
© 2015, Prof. Dr. Guido Quelle, Mandat Managementberatung GmbH, Dortmund, London, New York. ***
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